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Season 1

Episode 1

Die Spannung im Institut für Transdimensionale Ethnologie war greifbar, als Professor Nathaniel Reichelsberger in seinem Rollstuhl durch den Flur im dritten Stock zu seinem Büro fuhr. Die Nachricht von ihrem gestrigen Erfolg hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet - nach Jahren der Forschung standen sie endlich kurz davor, eine Verbindung zu einer anderen Welt herzustellen.

Nathaniel spürte das Pulsieren der geheimnisvollen Energien, die von den Kristallen im Keller ausgingen, bis hier oben. Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen bei dem Gedanken, dass er bald wieder gehen und seine Familie in die Arme schließen konnte. Es fehlte nur noch das letzte Puzzleteil.

Er blieb vor seinem Büro stehen und drückte seine Hand auf den Scanner in der Wand. Kaum hatte das System ihn erkannt und die Tür entriegelt, näherten sich vom anderen Ende des Flurs eilige Schritte, begleitet vom Klacken harter Sohlen auf dem Parkett. Nathaniel unterdrückte ein frustriertes Seufzen, als er den hektischen Gang seines Assistenten bemerkte.

"Karsten, ich habe wirklich keine Lust, dieses Thema heute noch einmal zu diskutieren", sagte er so ruhig wie möglich und massierte sich die pochende Nasenwurzel. Eine Migräne kündigte sich an, und ein weiterer Streit mit seinem brillanten, aber hitzköpfigen Kollegen war das Letzte, was er jetzt brauchte.

"Das ist keine Frage der Lust, sondern der Notwendigkeit, wenn wir endlich vorankommen wollen", zischte Karsten Polwitz. Trotz seines jungenhaften Charmes verrieten die grauen Schläfen, dass auch bei ihm das Studium schon einige Jahre zurücklag. Seine Augen funkelten vor Aufregung, seine Wangen waren gerötet.

Müde schüttelte Nathaniel den Kopf. "Du weißt so gut wie ich, dass es hier nicht nur um Ergebnisse geht. Wir stehen kurz davor, Zugang zu Thalor zu finden!"

Polwitz schnaubte verächtlich. "Wir konnten gestern eine winzige Fraktur stabilisieren. Es fehlt nur noch ein kleiner Stoß und wir können eine Verbindung zur anderen Seite herstellen. Dann fragt keiner mehr, ob das Thalor ist oder irgendein anderer Ort!" Seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. "Wir können nicht einmal sagen, ob Thalor überhaupt existiert oder nur ein Hirngespinst ist, das wir uns aus deinen Funden zusammengereimt haben. Wir müssen jetzt handeln, bevor die Kristalle den Geist aufgeben!"

Nathaniels Herz hämmerte. Für wen hielt Polwitz sich eigentlich? Hatte er vergessen, wer das alles hier aufgebaut hatte? Doch bevor er ihn zurechtweisen konnte, klingelte sein Telefon. Der Name auf dem Display ließ Nathaniel den Atem stocken - der Anruf, auf den er seit Wochen sehnsüchtig gewartet hatte.

"Dafür habe ich jetzt keine Zeit", sagte er knapp und drehte seinen Rollstuhl zur Tür. Ohne eine Reaktion abzuwarten, rollte er in sein Büro und schloss die Tür hinter sich, den fassungslosen Blick von Polwitz im Rücken. Mit zitternden Händen nahm er den Anruf entgegen, von dem er sich endlich den letzten Schlüssel erhoffte.


Die grünen Polarlichter zogen auch an diesem Abend wieder ihre majestätischen Bahnen über den sternenübersäten Himmel. Obwohl sie schon seit einigen Wochen über der Stadt funkelten, hatten sie nichts von ihrem Zauber verloren und ihr Erscheinen war noch immer das dominierende Thema in allen Unterhaltungen. Überall versuchten die Menschen, eine Erklärung für das ungewöhnliche Phänomen zu finden. Selbst die Wetterexperten im Radio tappten im Dunkeln und konnten nur ratlos die immer gleichen Fragen wiederholen. Simon hatte sich längst damit abgefunden, dass die geheimnisvollen Lichter ihn auf seinem allabendlichen Heimweg von der Arbeit begleiteten.

Die klirrende Kälte drang durch seine Jacke, fand jeden noch so kleinen Weg zu seiner Haut und ließ ihn frösteln. Der schneidende Wind trieb ihm Tränen in die Augen. Hastig wischte er sie mit dem Handrücken weg, doch für einen Moment verschwamm die Welt um ihn herum zu einem abstrakten Kunstwerk aus Licht und Schatten.

Simon beschleunigte seine Schritte und sehnte sich nach seiner warmen Wohnung und einer heißen Dusche. Der Winter hatte die Stadt fest im Griff und die Kälte kroch durch jede Ritze. Selbst das Atmen fiel schwer in der schneidend kalten Luft, die in den Lungen brannte. Die wenigen Passanten auf den Straßen hatten ihre Köpfe tief in ihre Schals vergraben und eilten mit starrem Blick aneinander vorbei, als wären sie leblose Roboter auf einer programmierten Route.

Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihm auf. Er keuchte erschrocken auf und machte einen ungeschickten Satz zur Seite, bei dem er fast das Gleichgewicht verlor. Er stolperte und streifte die kräftige Schulter des Schattens, der ein fast animalisch klingendes Knurren von sich gab. "He, pass auf!", zischte die Stimme vor ihm.

"Oh, Entschuldigung", murmelte Simon hastig und machte Platz. Der Mann, kaum mehr als eine verschwommene Silhouette vor der schmutzigen Fassade, murmelte etwas Unverständliches, schüttelte missbilligend den Kopf und drängte sich grob an ihm vorbei.

Mit gesenktem Blick folgte Simon der heruntergekommenen Straße, vorbei an vernagelten Fenstern und mit Graffiti beschmierten Hauswänden. Am Ende der Kurve tauchte endlich das baufällige Backsteinhaus auf, in dessen zugigem Dachgeschoss er seit dem Ende seiner Ausbildung wohnte - mangels Alternativen. Die flackernde Neonreklame der Kneipe nebenan warf ein unwirkliches Licht auf den rissigen Asphalt und ließ die gefrorenen Pfützen ölig glänzen.

Grölend stolperte eine Gruppe Betrunkener aus dem Gästehaus und gesellte sich zu den frierenden Gestalten, die bereits rauchend und in angeregte Gespräche vertieft, unter dem wackeligen Vordach lungerten. Ihre rauen Stimmen und ihr heiseres Gelächter hallten von den Hauswänden wider und vermischten sich mit dem leisen Rauschen der Hauptstraße.

Simon beschleunigte seinen Gang und folgte der Straße die letzten Meter bis zum Haus. Aus dem Nichts glaubte er, aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen. Erschrocken zuckte er zusammen, als unvermittelt die hochgewachsene Gestalt eines älteren Mannes neben ihm auftauchte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.

„Simon Weiss?“, fragte der Fremde mit einer tiefen, rauchigen Stimme, die Zigaretten über die Jahre zu einem beeindruckenden Bass geformt hatten. Er passte seine Geschwindigkeit Simons Gang an, während über seiner Schulter eine Tasche hing, deren Verschluss im Rhythmus seines unübersehbaren Hinkens klapperte.

Nicht schon wieder so ein Schreiberling, der ihm hier auflauerte, dachte Simon verärgert beschleunigte seine Schritte, entschlossen, den Fremden abzuschütteln. Mit einer gewissen Genugtuung sah er, dass es den Mann sichtlich anstrengte, mit ihm Schritt zu halten.

„Hören Sie“, bellte Simon genervt, während seine Angst langsam in Ärger umschlug. „Ich gebe keine Interviews. Gehen Sie zurück in die Redaktion und suchen Sie sich ein anderes Thema." Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, die letzten Meter zum Hauseingang zu sprinten, um den aufdringlichen Kerl endlich loszuwerden.

Seit irgendein Schreiberling vor ein paar Wochen seine alte Geschichte in den Zeitungsarchiven ausgegraben hatte, kamen immer wieder sensationslüsterne Reporter vorbei. Sie alle hofften, mit reißerischen Schlagzeilen wie „Der Junge ohne Gedächtnis - Was macht er 20 Jahre danach?“ eine kleine Story im Boulevardteil ihrer Käseblätter zu füllen.

Angewidert von der Vorstellung schnaubte Simon und eilte an der ramponierten Eingangstür des Hauses vorbei, deren abblätternde Farbe von Jahren der Vernachlässigung zeugte. Hastig verschwand er in den Schatten des unbeleuchteten Durchgangs zum Innenhof. Hinter ihm hallten noch immer die schlurfenden Schritte des Mannes, der einfach nicht aufgeben wollte.

Die großen Müllcontainer, die im schwachen Mondlicht glänzten, mussten Simon zur Orientierung genügen. Er hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft er seinen Vermieter schon vergeblich auf die defekte Beleuchtung hingewiesen hatte.
Vorsichtig schlängelte er sich an verrosteten Fahrrädern und einem alten Bettgestell vorbei, das ein anonymer Bewohner hier entsorgt hatte. Endlich erreichte er die schmale Tür zum Nebengebäude und stieß sie auf. Doch bevor er sie hinter sich schließen konnte, verstummten die Schritte des Mannes und eine knochige Hand griff nach seiner Schulter.

„Nur zwei Minuten“, keuchte der Fremde und ließ seine Hand sinken, als Simon erschrocken zurückwich. Er stolperte beinahe über die Türschwelle, während sich die Klinke schmerzhaft in seinen Rücken bohrte. Selbst im fahlen Mondlicht konnte er die Schweißperlen auf der Stirn des Mannes sehen, dem die Verfolgungsjagd sichtlich zugesetzt hatte.

Fluchend verschränkte Simon die Arme vor der Brust. Seine anfängliche Angst war inzwischen blanker Wut gewichen. „Los, dann spucken Sie es schon aus. Was wollen Sie von mir?“, fauchte er und funkelte sein Gegenüber aus schmalen Augen an.

Langsam gewöhnte er sich an die Dunkelheit hier und er glaubte, bei dem Fremden ein genervtes Augenrollen zu erkennen. Simons Hände ballten sich zu Fäusten, während er mühsam gegen den Impuls ankämpfte, dem Mann einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

„Ich? Gar nichts“, erwiderte der Fremde. „Ich soll nur dafür sorgen, dass Sie das hier bekommen.“ Umständlich fummelte er am Verschluss seiner Tasche herum. Eine gefühlte Ewigkeit verging, in der nur sein rasselnder Atem die Stille durchbrach und Simon der beißende Geruch von altem Rauch in die Nase stieg.
Endlich löste sich der Verschluss und der Mann zog einen gepolsterten Umschlag hervor, den er Simon reichte. „Was soll das sein?“, fragte dieser ungeduldig und drehte den Umschlag in der Hand. In der Dunkelheit war weder ein Absender noch sonst etwas zu erkennen.

Unschlüssig hielt er ihn in der Hand und wartete auf eine Erklärung. Stattdessen flammte ein Feuerzeug auf und erhellte für einen Moment das zerfurchte Gesicht des Mannes, als er sich gierig eine Zigarette anzündete. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und humpelte davon.

„Ich bin nur der Bote. Mein Auftrag ist hiermit erledigt", hallte seine Stimme von den Wänden wider und ließ Simon sprachlos zurück.

Simon schüttelte den Kopf. „Nur noch Verrückte unterwegs“, murmelte er und schob den Umschlag achtlos in seine Jackentasche. Er wollte endlich seinen eiskalten Körper auftauen.

Im Treppenhaus empfing ihn der vertraute Geruch von altem Holz und Moder. Ohne hinzusehen, tastete Simon nach dem Lichtschalter und blinzelte, als ihn das müde Flackern der nackten Glühbirne begrüßte. Das Licht warf lange Schatten an die Wände, als er die ausgetretenen Stufen hinaufstieg. Das Knarren der morschen Dielen unter seinen Füßen nahm er kaum wahr. Es war ein ständiger Begleiter in diesem Haus und ihm so vertraut wie sein eigener Herzschlag. Seine Freunde waren oft besorgter, wenn sie zu Besuch kamen und jedes Mal damit rechneten, mit einem Fuß in einer der Stufen zu versinken.

Oben angekommen schloss er die Wohnungstür auf, stemmte sich routiniert gegen das widerspenstige Holz. Es kratzte ächzend über den Boden, vertiefte die Furche im Dielenboden, die im Laufe der Jahre zu einem unübersehbaren Graben geworden war. Wie so oft blieb die Tür auf halbem Weg stecken, als hätte sie ihren eigenen Willen und kein Interesse mehr ihn hineinzulassen. Geschmeidig zwängte sich Simon durch den schmalen Spalt und navigierte im Halbdunkel zielsicher an den vertrauten Konturen von Schuhen und achtlos abgelegten Kleidungsstücken vorbei. Der Bewegungsmelder im Wohnzimmer bemerkte ihn und flutete das Zimmer mit einem warmen Licht. Mit einer eingeübten Bewegung warf er seinen Rucksack auf das Sofa und hing die Jacke über den Rücken eines Stuhls.

Mitten in der Bewegung hielt er inne, als er seinen Atem in der Kälte kondensieren sah. Wie um sich zu vergewissern, atmete er noch einmal aus, beobachtete das Wölkchen, das sich vor seinen Augen kräuselte und auflöste.

„Fuck …“, knurrte er und wählte bereits mit einer Hand die Nummer seines Vermieters, noch bevor seine prüfende Hand am kalten Heizkörper seine Vermutung bestätigte.

„Ja? Was ist denn heute schon wieder los?“, knurrte der Mann am anderen Ende kurz angebunden.

Simon presste die Lippen zusammen und verkniff sich den bissigen Kommentar, der ihm bereits auf der Zunge lag. Das ganze Haus war eine einzige Baustelle, die überall nur noch von Klebeband und anderen Krücken zusammengehalten wurde.

Ein lautes Hupen am anderen Ende holte Simon zurück und er räusperte sich kurz. In wenigen Sätzen fasste er sein Problem zusammen und hoffte, dass er nicht allzu lange im Kalten sitzen musste. Der Wetterbericht hatte auch für diesen Abend wieder sibirische Temperaturen angekündigt, die selbst durch seine zwei dicken Bettdecken ohne Probleme kriechen würden.

„Schon wieder?“, zischte die abgehackte Stimme auf der anderen Seite, als wäre Simon höchstpersönlich in den Keller gegangen, um die antike Heizung zu sabotieren. Simon grub die Zähne in seine Unterlippe und schloss die Augen, um nicht ausfallend zu werden. Er spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern jagte und das Blut in seinen Ohren rauschte. Aus Erfahrung wusste er, dass Dombrowsky nur auf die kleinste Provokation wartete, um zu explodieren. Eine Erfahrung, die er mehr als genug gemacht hatte.

„Ja. Leider schon wieder“, zwang sich Simon zu einem halbwegs freundlichen Tonfall.

Sein Vermieter fluchte laut und schlug kräftig auf etwas neben seinem Telefon ein, das scheppernd in Simons Ohren dröhnte. Erschrocken zuckte Simon bei dem plötzlichen Lärm zusammen, der schmerzhaft in seinem Ohr klirrte. Dann wurde es plötzlich still. Nur das leise Rauschen der Verbindung verriet Simon, dass er nicht einfach aufgelegt hatte. Unsicher, ob er das Schweigen brechen sollte, wartete Simon auf eine Reaktion. Endlich drang Dombrowskys gepresste Stimme an sein Ohr. Einsilbig versprach er, sich so schnell wie möglich darum zu kümmern. Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sein Vermieter auf, und es war wieder still. Überrascht starrte Simon auf den Hörer. So kurz vor Weihnachten schien auch er eine weichere Seite zu haben. Für seine Verhältnisse.

Simons Magen knurrte laut und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Wesentliche – das Essen. Am besten heiß.

Schnell durchquerte er die enge Küche und seufzte, als er einen Blick in den fast leeren Kühlschrank warf. Außer den Resten seines gestrigen indischen Essens war nicht mehr viel übrig. Er nahm die Schüssel heraus und stellte sie lustlos in die Mikrowelle. Es dauerte nicht lange, bis sich ein verführerischer Duft in der Küche ausbreitete, der seinen leeren Magen wieder laut knurren ließ. Ungeduldig beobachtete er sein Essen, das sich langsam im Gerät drehte und schon die ersten Bläschen schlug.

Das Surren seines Handys erregte seine Aufmerksamkeit. Er zog es aus der Hosentasche und hoffte inständig, dass es nicht wieder der Vermieter war. Es würde ihn nicht wundern, wenn er seine Meinung geändert hätte.

Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Rebeccas Nummer auf dem Display sah. Mit einer beiläufigen Geste nahm er ihren Videoanruf entgegen. Seine beste Freundin hockte im T-Shirt auf ihrem Bett und sah erschöpft aus, was Simon sofort auffiel. Ihre rosa Haare standen wild in alle Richtungen ab und selbst über die Videoverbindung konnte er die dunklen Ringe unter ihren Augen erkennen. Wie zur Bestätigung gähnte sie laut und fuhr sich mit den Händen über ihr Gesicht.

„Harte Woche?“, fragte Simon mit vollem Mund. „Ich war kurz davor, eine Vermisstenanzeige aufzugeben“, fügte er kauend hinzu, als Rebecca nicht sofort antwortete, sondern suchend ihre Hose abtastete und dann aus dem Blickfeld der Kamera verschwand. Gierig nutzt er die Gelegenheit und begann sein Essen hinunterzuschlingen, während Rebecca, den Geräuschen nach zu urteilen, in dem Chaos auf ihrem Schreibtisch nach etwas suchte

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie hart...“, hörte er Rebecca aus dem Off sagen. Dinge fielen zu Boden oder wurden raschelnd zur Seite geschoben, bis Simon ein erleichtertes „Ah, da bist du ja“ hörte und Rebecca endlich wieder im Bild erschien. Ihr Gesicht war von einer weißen Wolke umgeben, die aus Mund und Nase quoll und den Fokus der Kamera an seine Grenzen brachte.

„Okay, raus mit der Sprache“, sagte er und stellte den leeren Teller geräuschvoll beiseite. „Was ist die Woche los gewesen?“ Rebecca seufzte und ließ sich rückwärts auf ihr Bett fallen. Sie schüttelte mit ihrem Kopf und drehte sich auf die Seite. Ihr Blick war müde und Simon merkte ihr sofort an, dass sie am liebsten nicht darüber reden wollte.

„Ach, ich weiß auch nicht. Es ist immer der gleiche Mist.“ Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Blick wanderte unruhig durch ihr Zimmer, blieb an einigen Dingen hängen, bevor er wieder zur Kamera zurückkehrte.

„Erinnerst du dich noch an die Pläne, die wir damals geschmiedet haben?“, fragte sie, schien aber keine Antwort von ihm zu erwarten. „Wir wollten die Welt zu einem besseren Ort machen, gegen den Kapitalismus kämpfen und etwas aufbauen, auf das wir stolz sein konnten.“

Sie lachte freudlos. „Und was haben wir stattdessen erreicht? Jetzt sind wir Teil von genau dem, was wir ändern wollten, hören mehr auf Zahlen in Tabellen und die Wünsche von Investoren als auf das, was die Menschen um uns herum brauchen!“

Rebeccas Stimme wurde lauter und trug eine Verbitterung in sich, die Simon überraschte. So hatte er seine Freundin schon lange nicht mehr erlebt. Sprachlos öffnete er den Mund und suchte verzweifelt nach einer angemessenen Reaktion, die Rebecca aus ihren düsteren Gedanken herausholte.

„Das kommt doch nicht aus heiterem Himmel, was ist denn los?“, fragte er hilflos und zuckte innerlich zusammen, als er ihren Blick sah, der ihn zu durchbohren schien.

„Ich sollte kurz vor Weihnachten zwei Teams mitteilen, dass sie im nächsten Jahr keine Arbeit mehr haben“, schnaubte Rebecca. Ihre Augen funkelten vor Wut.

„Scheiße …“, murmelte Simon und wartete sprachlos auf weitere Details. Was waren das für Leute, die so etwas kurz vor Weihnachten taten?

Rebecca nickte langsam. „Ich habe mich geweigert und das fanden sie gar nicht lustig. Also haben sie mich auch rausgeschmissen, weil sie das 'Vertrauensverhältnis zu mir als gestört' ansahen.“ Wütend gestikulierte sie vor der Kamera, während sie sprach, und deutete mit den Fingern Anführungszeichen an, während sie die Worte ihrer Chefs wiederholte. Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus, und sie verdrehte sichtlich genervt die Augen, während sie die fadenscheinige Begründung für ihre Entlassung aussprach.

"Du musst doch etwas dagegen tun können, dich gegen die Kündigung wehren!", brach es aus Simon heraus und er sprang von seinem Stuhl auf. Sein Atem ging schwer und in seinem Bauch brodelte die Wut. Mit geballten Fäusten sah er bunte Punkte vor seinen Augen tanzen. Der Wind erhob sich und fegte heulend um die Ecken, vermischte sich mit dem Rauschen seines Blutes in den Ohren. Das Licht über dem Küchentisch flackerte und beruhigte sich, als der Sturm nachließ. Dieses Haus war eine einzige Bruchbude, schoss es Simon durch den Kopf, was seine Wut nur noch mehr anfachte.

"Nein. Die können mich mal. Ich will mit denen nichts mehr zu tun haben", unterbrach sie seine hitzigen Gedanken und atmete hörbar aus. Ihre Gesichtszüge entspannten sich und ihre Miene hellte sich wieder auf. "Reg dich nicht meinetwegen auf. Das haben sie nicht verdient. Und ... wer weiß, vielleicht ergibt sich ja im nächsten Jahr etwas, wo wir endlich mal wieder etwas zusammen machen können!"

Simon lachte ungläubig und überrascht. Seit Jahren geisterte die Idee in seinem Kopf herum. Aber mehr als den Teamtanz würde er nicht zu ihrem Unternehmen beitragen können. Er schüttelte den Kopf. "Du weißt doch, dass ich nicht fürs Büro gemacht bin."

"Aber es muss ja auch nichts in einem Büro sein", protestierte sie und zog das Handy näher an ihr Gesicht. "Können wir nicht einfach auswandern und ein Bistro am Strand eröffnen?"

Simon seufzte. Der Gedanke war verlockend. Rebecca wusste nur zu gut, wie sehr er sich danach sehnte. Die Koffer packen und sich ins Abenteuer stürzen. Aber er konnte sich gerade mal den Billigflieger nach Spanien im Sommer leisten. Für ihn blieben die Videos im Internet und der Traum, vielleicht eines Tages im Lotto zu gewinnen.

"Hey! Erde an Simon?", holte ihn Rebeccas laute Stimme wieder zurück in die kalte Wirklichkeit seiner Wohnung. Sie lag wieder auf ihrem Rücken und grinste ihn breit an. Ihre rosa gefärbten Haare hatten sich auf dem Kopfkissen ausgebreitet und bildeten einen bunten Kranz um ihr Gesicht. Die einzelnen Strähnen schimmerten im warmen Licht der Nachttischlampe und ließen ihre blasse Haut leuchten.

Sie unterdrückte ein Gähnen und Simon sah an ihren geröteten Augen, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. "Du weißt, dass ich ..."

Simon schüttelte seinen Kopf. "Nein, du weißt genau, dass ich das nicht will!", stoppte er ihren Gedanken sofort. Er wusste, was sie sagen wollte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie ihm anbieten wollte, den gemeinsamen Urlaub zu bezahlen. Auch, wenn sie es nicht gerne hörte und noch seltener selbst sagte, ihre Familie hatte mehr Geld, als sie wahrscheinlich im ganzen Leben ausgeben konnte. Allein bei der Vorstellung zog sich Simons Magen zusammen.

Rebecca hob beschwichtigend die freie Hand. "Ich mein ja nur … aber du hast ja recht. Ich würde es auch nicht wollen."

Sie gähnte wieder. Ihre Augen hatten sich bereits zu kleinen Schlitzen geschlossen.

„Vergiss nicht unser Frühstück morgen“, erinnerte er seine Freundin, die mit jedem Atemzug mehr ins einen leichten Schlaf fiel. Wortlos und träge nickte Rebecca. Simon grinste und verabschiedete sich leise von ihr. Die letzten Tage schienen ihr wirklich einiges an Energie abverlangt zu haben.

Er gähnte laut und spürte, wie die Kälte seiner Wohnung unaufhaltsam wieder in sein Bewusstsein zurück drang. Mit wenigen Handgriffen hatte er die Spuren seines Abendbrots beseitigt und lag kurz darauf zitternd in seinem kalten Bett.

Mit einem frustrierten Seufzer zwang sich Simon, an die traumhaften Strände zu denken, die Rebecca und er bei ihren Gedankenspielen ausgesucht hatten. Er sehnte sich nach der unberührten Natur und die grenzenlose Freiheit, die dort auf ihn warteten. In den letzten Monaten hatten sie wieder unzählige Videos über ihre Traumziele verschlungen und jede freie Minute damit verbracht, sich auszumalen, wie sie durch das türkisfarbene Wasser wateten, den feinen, weißen Sand unter den nackten Füßen spürten und einen erfrischenden Cocktail in der Hand hielten.

Langsam spürte er die Entspannung, die von diesen friedlichen Bildern ausging, und allmählich verblassten das Heulen des Windes vor seinem Fenster, die Kälte und das Knarren der alten Mauern um ihn herum. Seine Augenlider wurden schwer, und der Schlaf rollte über ihn hinweg wie eine seichte Welle in der Brandung.

Doch kaum hatte er die Augen geschlossen, suchten ihn düstere Bilder in seinen Träumen heim. Das eben noch kristallklare Wasser, das sanft um seine Knöchel plätscherte, verwandelte sich in eine brodelnde, zähe Brühe. Glitschige Leiber glitten durch die trüben Fluten, züngelten an seinen Zehen und rieben sich an seinen Beinen. Unheilvolle Wolken türmten sich über ihm auf und verschluckten das warme Licht der Sonne..

Ein Schauer lief Simon über den Rücken, als er etwas Bösartiges spürte, das dicht hinter ihm zu lauern schien und seine Haut zum Prickeln brachte. Eine Gänsehaut lief ihm über den Nacken, als er einen heißen, fauligen Atem in seinem Nacken spürte.

Etwas packte ihn von hinten, scharf und brennend. Mit einem Ruck versuchte er sich aus dem schmerzhaften Griff zu befreien, doch vergeblich. Er wollte schreien, aber kein Laut kam über seine Lippen.

Eine weitere Berührung, diesmal am Bein, ließ ihn zusammenzucken. Dann spürte er einen ekelhaften Hauch an seinem Ohr, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Voller Panik versuchte er, dem namenlosen Grauen zu entkommen, das sich an ihn klammerte. Doch seine Füße verloren den Halt und er stolperte in das brodelnde Schleimmeer, das ihn gierig verschluckte und von allen Seiten einhüllte.

Verzweifelt strampelte Simon, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Wie ein Ertrinkender streckte er die Arme aus, doch wohin er auch griff, überall war nur noch mehr von der öligen Flüssigkeit, die ihm bitter und salzig in den Mund drang.

Schemenhaft erkannte er dunkle Umrisse in der Ferne, bevor das letzte Licht vor seinen Augen erlosch.

Atemlos schwebte er in absoluter Finsternis. Plötzlich schossen gleißende Lichtpunkte aus der Dunkelheit auf ihn zu, wurden größer und größer, bis sie sein gesamtes Blickfeld ausfüllten und die Schwärze verdrängten. Das grelle Licht war so intensiv, dass er nichts mehr erkennen konnte.

Ein ohrenbetäubendes Dröhnen erfüllte seinen Kopf, vibrierte in jeder Faser seines Körpers. Feine Risse bildeten sich in der weißen Leere und mit einem gewaltigen Krachen stürzte er durch sie hindurch.

Keuchend sank Simon auf die Knie, als ihn die Dunkelheit wieder umfing. Über ihm konnte er die verschwommenen Umrisse von Körpern ausmachen. Er war nicht mehr allein. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das spärliche Licht, das aus keiner bestimmten Quelle zu kommen schien.

Männer in wallenden Gewändern standen im Kreis um ihn herum. Ein kaltes, unnatürliches Licht hüllte sie in einen gespenstischen Schein und warf lange, dunkle Schatten auf seinen nackten Körper. Ihre Gestalten wiegten sich in einem hypnotischen Rhythmus, während ein archaisch anmutender Gesang von ihren Lippen drang. Das Lied schwoll an, wurde lauter und lauter, bis es vibrierend in Simons Körper eindrang. Jede Faser seines Seins reagierte auf die fremden Klänge, ließ ihn unkontrolliert erzittern.

Vergeblich versuchte Simon sich aufzurichten, doch unsichtbare Fesseln hielten ihn unbarmherzig am Boden. Je heftiger er gegen sie ankämpfte, desto tiefer schnitten sie sich in seine Handgelenke, bis er glaubte, das warme Blut an seinen Armen hinunterlaufen zu spüren.

Eine der vermummten Gestalten hob etwas über seinen Kopf und der Gesang schwoll zu einem unerträglichen Crescendo an, das in seinem Schädel dröhnte.

Ein plötzlicher, heftiger Schmerz durchzuckte seine Brust, raubte ihm den Atem. Ein gleißendes Licht explodierte vor seinen Augen und vermischte sich mit dem stechenden Schmerz, der seinen Körper zu zerreißen drohte.

Ein markerschütternder Schrei gellte durch die Dunkelheit.

Sein eigener Schrei.

Das ohrenbetäubende Dröhnen in seinem Kopf schwoll an, füllte jeden Winkel seines Verstandes, bis es zu einem unerträglichen Pochen wurde.

Dann ein Schlag.


Mit einem erstickten Schrei schlug Simon auf dem harten Boden neben seinem Bett auf. Keuchend und schweißgebadet kämpfte er sich aus der Decke, die sich wie eine Schlinge um seinen Körper gewickelt hatte. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Rippen und sein Atem ging stoßweise.

Simon riss die Augen auf und helles Tageslicht blendete ihn. Desorientiert blinzelte er in die Helligkeit und versuchte zu erkennen, wo er war.

Langsam kehrte die Realität zurück und verdrängte die letzten Fetzen des Albtraums, der ihn die Nacht lang gefangen gehalten hatte. Sein Puls beruhigte sich nur langsam wieder.

Es war nur ein Traum gewesen, wiederholte er wie ein Mantra in seinem Kopf.

Zitternd setzte sich Simon auf und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Seine Finger zitterten unkontrolliert und er spürte die Nässe auf seinen Wangen. Er hatte im Schlaf geweint. Ein ohrenbetäubendes Pochen ließ ihn zusammenfahren. Einen Moment lang glaubte er, das Geräusch käme aus seinem Traum, doch dann erkannte er, dass jemand mit aller Kraft gegen seine Wohnungstür hämmerte.

Verschlafen und mit schmerzendem Ellbogen rappelte sich Simon auf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er die Zeit völlig verschlafen hatte. Fluchend taumelte er zur Tür, während er sich die Augen rieb. Wahrscheinlich war es bereits seine Freundin Rebecca, die ungeduldig darauf wartete, dass er endlich aufmachte.

Mit zitternden Händen öffnete Simon die Tür. Überrascht zuckte er zusammen, als er die untersetzte Gestalt seines Vermieters erblickte. Der ältere Mann musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen, einen verbeulten Werkzeugkasten in der Hand. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und war übersät mit Ölflecken. Ob es die Treppe oder die Arbeit im Keller war, die ihn so außer Atem gebracht hatte, konnte Simon nicht sagen. Doch die Anstrengung hatte dafür gesorgt, dass eine fast greifbare Wolke von Schweiß den Mann umgab.

Unwillkürlich wich Simon einen Schritt zurück und stützte sich am Türrahmen ab. Der beißende Geruch stach ihm in die Nase. Er räusperte sich unbehaglich. "Ja?", krächzte er und spürte, wie seine Stimme vor Anspannung zitterte.

„Wollte nur Bescheid geben, dass die Heizung wieder läuft“, keuchte der Vermieter und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn.

Ohne eine Antwort abzuwarten, quetschte er sich an Simon vorbei in die Wohnung. Mit geübtem Griff prüfte er den Heizkörper im Flur, der vor wenigen Stunden noch eisige Kälte ausgestrahlt hatte, und nickte zufrieden. Wortlos drehte er sich um und verließ die Wohnung so schnell, wie er gekommen war. Im Hinausgehen nahm er einen Anruf auf seinem Handy entgegen, offenbar hatte er noch viel zu tun. Mit einem stummen Nicken verabschiedete er sich.

Eisige Luft strömte aus dem Flur und ließ Simon frösteln, als sie über seine nackte Brust strich. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, warum Dombrowsky ihn so seltsam gemustert hatte: Er trug nichts weiter als seine Shorts, auf denen bunte Fische mit übergroßen Augen durch einen Wald aus Korallen schwammen.
Stöhnend fuhr sich Simon mit der Hand übers Gesicht. Brennende Scham ließ seine Wangen glühen. Kein Wunder, dass ihn sein Vermieter so angestarrt hatte!

Simon drehte sich um, gab der Tür einen Tritt und ging zurück zum Schlafzimmer. Verwundert blieb er stehen, als die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Geräusch stoppte.

„Guten Morgen, Sonnenschein“, säuselte es von der Tür.

Erschrocken fuhr er herum und schaute in das breite Grinsen von Rebecca, die von der Tür aus das Kunstwerk auf seiner Hose begutachtete. Ohne eine Reaktion abzuwarten, betrat sie schwungvoll die Wohnung, einen großen Umzugskarton voller glitzernder Weihnachtsdekorationen in den Armen, der bei jeder Bewegung leise raschelte. Mit dem Fuß stieß sie die Tür hinter sich ins Schloss.

"Du willst das also wirklich dieses Jahr durchziehen?", fragte Simon und nickte in Richtung der Girlanden, die aus der Kiste hervorquollen.

"Klar doch! Und nach dem Erlebnis gestern habe ich erst recht keine Lust, mir an Weihnachten wieder das Gejammer meines Vaters anzuhören, dass ich endlich in seine Firma einsteigen soll. So weit kommt's noch!" Entschlossen quetschte sich Rebecca mit dem Karton an Simon vorbei ins Wohnzimmer.

"Scheint gerade Mode zu sein, sich an mir vorbeizudrängeln", murmelte er ironisch und verdrehte die Augen. Rebecca musterte ihn von oben bis unten, eine Augenbraue fragend hochgezogen. Erst jetzt schien sie die niedrigen Temperaturen in der Wohnung zu bemerken.

"Ist dir nicht kalt so? Oder bin ich zu früh und dich hat noch jemand als Stripper vor mir gebucht, damit dir warm wird?", neckte sie ihn grinsend.

"Da hat man einmal etwas Geld so verdient und es wird einem auch nach Jahren noch vorgehalten!", beschwerte sich Simon lachend.

"Ich halte es dir nicht vor. Ich nehme dir immer noch übel, dass ich nicht dein Pimp sein darf! Wir könnten so erfolgreich werden."

Grinsend zog Rebecca eine Girlande aus dem Karton und wickelte sie um ihren Hals. "Siehst du, das passende Outfit habe ich schon." Sie stolzierte lachend vor Simon auf und ab. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich in der Rolle wirklich gefallen würde und folgte ihr glucksend ins Wohnzimmer. Dann fiel sein Blick auf den Umschlag in Rebeccas Hand. "Was ist das denn?"

"Ach ja, der lag auf der Treppe, mit deinem Namen drauf", erklärte sie und hielt ihm den Brief hin. Simon erkannte ihn sofort - er musste ihm auf dem Weg nach oben aus der Tasche gerutscht sein. Unschlüssig drehte er das Kuvert in den Händen. Ein schmieriger Fußabdruck zeichnete sich auf einer Seite ab und verdeckte einen Teil des Absenders, der in feiner Schrift auf der Rückseite stand. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er ihn zu entziffern, aber das Wasser des Abdrucks hatte die Tinte verwischt.

"Na los, mach ihn schon auf!", drängte Rebecca ungeduldig.

"Ach nee, wahrscheinlich nur eine Rechnung", winkte Simon ab und warf ihn achtlos auf den kleinen Esstisch. Noch immer war er sich nicht sicher, ob er überhaupt wissen wollte, was es mit dem Umschlag auf sich hatte. Aber Rebecca ließ nicht locker und griff wieder nach ihm.

"Blödsinn, so sieht doch keine Rechnung aus! Jetzt stell dich nicht so an."

Seufzend gab Simon nach. "Dann mach du ihn halt auf, ich zieh mir nur schnell was über." Damit verschwand er im Schlafzimmer, während Rebecca sich eifrig daran machte, den Umschlag zu öffnen.

Simon öffnete seinen Kleiderschrank und beäugte kritisch den Stapel gebrauchter Wäsche, der sich im Laufe der Woche dort angesammelt hatte. Er zog ein zerknittertes T-Shirt heraus und hielt es an seine Nase. Nach kurzem Zögern warf er es zurück auf den Haufen und suchte weiter. Schließlich fand er einen dunklen Hoodie, der noch einigermaßen frisch roch. Zufrieden nickte er, streifte ihn über und schlüpfte in eine gemütliche Hose, bevor er zurück in den Flur ging.

"Was zum...", hörte er Rebecca im Wohnzimmer murmeln. Schnell eilte er ins Wohnzimmer zurück. Rebecca stand wie erstarrt da. Der Umschlag lag vor ihr auf dem Fußboden. In der Hand hielt sie einen zusammengefalteten Brief, während sie ungläubig auf ein paar Fotos in ihrer Hand starrte.

Mit wild klopfendem Herzen stellte sich Simon hinter Rebecca, um einen Blick auf die Bilder zu erhaschen. Was er sah, ließ sein Herz für einen Schlag aussetzen. Von den Fotos blickte ihm sein eigenes Gesicht entgegen, nur jünger. So jung, dass er sich kaum wiedererkannte. Wie konnte das sein? Er besaß keine Aufnahmen von sich aus dieser Zeit!

Doch es war nicht nur das. Die seltsame Kleidung ließ ihn stutzen - schwarz und mit goldenen Stickereien verziert. Um den Hals seines jüngeren Ichs hing ein Amulett mit einem geheimnisvoll schimmernden blauen Stein. Im Hintergrund erhoben sich schneebedeckte Berggipfel unter strahlend blauem Himmel.

Nichts davon kam Simon auch nur im Entferntesten bekannt vor.

Vorsichtig nahm er Rebecca den Brief aus der Hand und überflog die wenigen, elegant geschwungenen Zeilen. Je länger er las, desto fester krallten sich seine Finger in das Papier. Sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen, während er wieder und wieder über die rätselhaften Worte flog.

"Ich denke, ich konnte deine Neugier wecken. Wenn du mehr über dich erfahren willst, dann komm nach Königstal", las Simon mit bebender Stimme vor. Er spürte Rebeccas bohrenden Blick auf sich ruhen.

"Was hat das zu bedeuten?", flüsterte Rebecca, als fürchtete sie, jemand könnte sie belauschen.

"Ich weiß es nicht", erwiderte Simon heiser und fuhr sich mit zitternden Händen durchs Haar.

"Ich verstehe das alles nicht. Wie kann das sein?"

Hilflos starrte er auf die Fotos in seiner Hand. Er zuckte zusammen als sich Rebeccas Arme auf seine Schultern legten und ihn in eine Umarmung zogen.

"Los, pack deine Sachen. Wir machen einen Roadtrip!", flüsterte sie mit fester Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien, in sein Ohr.